Wilsbergs Welt by Jürgen Kehrer

Wilsbergs Welt by Jürgen Kehrer

Autor:Jürgen Kehrer
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
Tags: Kurzgeschichten
ISBN: 3894258705
Herausgeber: Grafit Verlag
veröffentlicht: 2012-07-24T22:00:00+00:00


Wilsberg – Eine Weihnachtsgeschichte

Um es gleich zu sagen: Ich mochte Weihnachten nicht. Elfeinhalb Monate im Jahr war ich glücklich mit meinem Schicksal, nur eben nicht zu dieser – Unzeit.

Obwohl ich mich ein ums andere Mal dagegen sträubte, so etwas wie weihnachtliche Gefühle zu entwickeln. Mir jeden Herbst vornahm, von Mitte Dezember bis Anfang Januar eine Pauschalreise in eine Weltgegend zu buchen, wo es weder Weihnachtsbäume noch Supermärkte mit Weihnachtsliederdauerberieselung gab. Was ich genauso regelmäßig wieder verwarf, weil ich mir vorstellte, wie ich mit anderen Weihnachtsflüchtlingen an einem sandigen Strand oder zwischen kitschigen Palmen sitzen und Weihnachtsgedankenverdrängungswettbewerbe austragen würde (»Denken Sie bloß, heute feiert man in Deutschland Weihnachten!« – »Wenn Sie es nicht gesagt hätten, hätte ich es völlig vergessen.«). Nein, da war eine kleine Weihnachtsdepression das geringere Übel.

Auch in diesem Jahr kroch sie aus den Ecken meines Büros, ließ die verstaubten Aktenordner mit den abgehefteten alten Fällen noch ein wenig trister aussehen, den gegen das Fenster klatschenden münsterschen Regen noch ein bisschen eintöniger klingen und mich selbst etwas intensiver als nötig darüber nachdenken, dass mein letzter Auftrag seit mehr als einer Woche Geschichte war. Und über Weihnachten, so stand zu befürchten, würde niemand meine Dienste in Anspruch nehmen.

Was eine komplette Fehlannahme war. Denn zwei Tage vor Heiligabend stand sie plötzlich vor der Tür. Eine Frau in Rauschgoldengelgestalt mit langen, nach allen Regeln der Coiffeurkunst gelockten Haaren, in eleganter Kleidung, einen Hauch von Irgendwas verströmend. Und das Schönste war: Sie suchte einen Privatdetektiv. Nur mit Mühe konnte ich mich davon abhalten, vor Freude um meinen Schreibtisch zu tanzen.

Bis zu dem Moment, in dem sie sagte: »Herr Wilsberg, Sie werden meinen Wunsch für ungewöhnlich halten, aber ich suche einen Weihnachtsmann.«

Sie zwinkerte nicht. Sie lächelte nicht einmal. Offenbar meinte sie es ernst.

»In der Tat: ein ungewöhnlicher Wunsch«, stimmte ich ihr zu. »So ungewöhnlich, dass ich ihn ablehnen muss. Es gibt Agenturen, die Studenten vermitteln. Ich bin für diesen Mummenschanz …«

»Nein, nein«, unterbrach sie mich. »Sie verstehen mich nicht. Es geht mir um Sie. Besser gesagt, um meine Nichten und Sie.«

»Ihre Nichten?«

»Die Mädchen sind krimibegeistert, verschlingen mehrere Detektivgeschichten pro Woche. Und da möchte ich ihnen zu Weihnachten eine Begegnung mit einem echten Detektiv schenken.«

»Und warum muss ich mir dafür einen weißen Bart umhängen?«

»Das ist ja der Gag«, strahlte meine Klientin. »Der Weihnachtsmann ist sozusagen die Verpackung, aus der ein echter Detektiv steigt. Im Übrigen sind Sie natürlich herzlich zum Festessen eingeladen. Vorausgesetzt, Sie haben nichts Besseres vor.«

Sie schaute sich um. Kein Weihnachtsschmuck, nirgends. Ich fühlte mich ertappt.

An Heiligabend war es neblig und kalt. Eine schneidende, beißende Kälte, die mir entgegenschlug, als ich das Haus verließ. Beinahe war ich froh, einen dicken roten Mantel zu tragen und mein Gesicht hinter einem weißen Wattebart verstecken zu können. Requisiten, die mir meine Auftraggeberin hatte zukommen lassen.

Je weiter ich mich von der Innenstadt entfernte, desto dichter wurde der Nebel, durch den sich die Autos im Schneckentempo tasteten wie eine Horde U-Boote auf dem Grund des Marianengrabens.

Frau Rosen, meine Klientin, wohnte in einem nördlichen Vorort, und fast schien es



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